Die Opfer der Schoa:
eine integrierte Geschichtsschreibung
Mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2007 für Saul Friedländer
wird erstmals ein Historiker ausgezeichnet, der die Schoa erforscht. Als Kind hatte er den Nationalsozialismus unter falscher Identität in einem katholischen Internat in Frankreich überlebt. Erst nach dem Krieg erfuhr Friedländer von der Ermordung seiner Eltern in Auschwitz und entschied sich wieder für seine jüdische Identität. Er emigrierte zunächst nach Israel und später in die USA. Zur Preisverleihung reiste er mit sehr gemischten Gefühlen an und ergriff das Wort in seiner deutschen Muttersprache.
Vor allem mit seinem Hauptwerk Das Dritte Reich und die Juden 1933-1945 hat Saul Friedländer die Geschichtsschreibung über die Schoa verändert. In seiner Dankesrede gibt er einen Einblick in seine Methode, indem er Briefe vorliest, die seine Familienangehörigen nach ihrer Vertreibung 1939 aus Prag bis zu ihrer Deportation in die Vernichtungslager geschrieben haben. Geschichtsschreibung heißt für Friedländer, die Perspektive der Opfer einzubeziehen. Quellen wie Briefe und Tagebücher montiert er zu einem vielschichtigen Bild, um dem Fokus auf die Täter und auf staatliche Archivmaterialien entgegenzuwirken. Eine solchermaßen „integrierte Geschichte“ erlaubt es auch, nach der Handlungsmacht zu fragen: wie äußerten sich die Opfer in ihrer Situation der Verfolgung, welche Ahnung und Verzweiflung spricht aus ihren persönlichen Mitteilungen? Wie gegenwärtig muss ihr Schicksal den Deutschen gewesen sein?
Saul Friedländer als Kind mit seinen Eltern, die in Auschwitz ermordet wurden (Foto: privat)
Die Schoa überleben:
Verantwortung und Perspektive
Geschichtsschreibung ist Saul Friedländer zufolge dazu verpflichtet, die Stimme der Opfer hörbar zu machen. Sie dürfe nicht distanziert, im Sinne einer objektiven Beschreibung daherkommen, sondern müsse die subjektive Perspektive sowie die eigene Fassungslosigkeit angesichts der Gewalt mit reflektieren. Diese Herangehensweise, die auch die Frage des Vorstellungsvermögens angesichts des unvorstellbaren Leids umfasst, ist für Friedländer unvermeidbar. Ohne persönliche Erinnerungen, etwa an das Schicksal der eigenen Familie, ohne die eigene Trauer, könne die Aufgabe der Geschichtsschreibung nicht vollzogen werden: für die Überlebenden ebenso wenig wie für die nachgeborenen Generationen. Friedländers Friedenspreisrede reflektiert auf diese Weise auch sein eigenes Überleben.
Für den Historiker werden in den einzelnen Stimmen und den scheinbar alltäglichen Zeugnissen nicht nur die jeweilige Individualität und Unschuld der Opfer, sondern auch die großen Linien der historischen Ereignisse ersichtlich. In persönlichen Quellen zeige sich umso deutlicher, wie hoffnungslos die Situation für die Opfer der Gewalt und Verfolgung war. In der Wahrnehmung individueller Erzählungen verbinde sich historisches Wissen mit einem kritischen Fragen und einem Wissenwollen, das statistische Daten nicht hervorzurufen vermögen. Nur eine an den Lebensgeschichten der einzelnen Personen orientiere Geschichtsschreibung könne den Opfern ihre Würde zurückgeben.
Saul Friedländer während seiner Rede in der Paulskirche (Foto: Werner Gabriel)
Dokumente der Vernichtung:
die Quellen sprechen lassen
Saul Friedländers Fokus auf die Opfer und Überlebenden der Schoa ist nicht allein moralisch motiviert. Die Grundlage seiner historischen Forschung bleibt die Arbeit mit Quellen. Seine Methode will der Historiker allerdings nicht als biografischen Ansatz von Geschichtsschreibung verstehen. Persönliche Quellen nimmt er als historische Dokumente ernst und nicht als Mittel zur zusätzlichen emotionalen Illustration. Das Anliegen von Friedländer besteht darin, die Dokumente selbst sprechen zu lassen und mit ihrer Hilfe die Geschichten der Opfer zu erzählen, die unter anderem auch einen tiefen Einblick in lokale Zusammenhänge des Vernichtungsgeschehens gäben. Auch wenn die authentischen persönlichen Quellen nur teilweise überliefert sind, besitzen für ihn solche Dokumente die größte Erklärungskraft in der Geschichtsschreibung.
Mit seinem Ansatz einer „integrierten Geschichtsschreibung“ wendet sich Friedländer nicht nur gegen ein abstraktes Verständnis von Geschichte, sondern auch gegen eine exemplarische Betrachtung von Einzelschicksalen. Er kritisiert, dass letztere zu einem sentimentalen Erinnern führen könne, weil angesichts des individuellen Leids die strukturellen Zusammenhänge der Vernichtungspolitik gelegentlich in den Hintergrund träten. Für Friedländer ist die Judenverfolgung Ergebnis des Vernichtungsantisemitismus, den er als einen eigenen Zweck der NS-Politik versteht – also kein grausames Nebenprodukt des Kriegs, das man als Tragödie betrauern kann.
Das Publikum der Friedenspreisverleihung in der Paulskirche (Foto: Werner Gabriel)