Auszug: Dankesrede
(17. Oktober 1965)
00:00
Nelly Sachs (1891 – 1970)
Dichterin und Schriftstellerin
In Deutschland:
die Hoffnung auf ein Zeichen der Versöhnung
1965 wird die jüdische Lyrikerin Nelly Sachs mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Sie ist die erste Frau in der Reihe der bisherigen Preisträger. 20 Jahre nach Kriegsende hat sie ihre Scheu kaum überwunden, überhaupt nach Deutschland zu reisen. 1940 war Sachs noch gerade so der Deportation entkommen und nach Schweden geflohen. Zur Annahme des Preises bewog sie nicht die Anklage der Tätergesellschaft, sondern das Gedenken der Opfer und das Gespräch mit der jungen Generation. Mit dieser wollte sie ihren Glauben an die Frieden stiftende Kraft der dichterischen Sprache teilen.
Eine Rückkehr in die Heimat war Sachs’ Reise allerdings nicht. Wie es in einem der Gedichte heißt, die sie in der Paulskirche vortrug, hält sie sich mehr an die „Verwandlungen der Welt“ als an die Idee von Heimat. Sachs’ Dichtung ist vom Glauben an die Heimatlosigkeit des dichterischen Worts sowie an dessen kreative Verbindungen zur Welt getragen. Das Ungeheuerliche des jüdischen Schicksals ist von Anfang an ein zentrales Motiv in ihren Gedichten, die sie auch nach ihrer Flucht stets auf Deutsch – der Sprache der Verfolger – verfasst. Ihre Würdigung in Deutschland erfolgt jedoch erst spät. Von vielen wird ihre Dichtung aufgrund ihrer dunklen Sprache als geheimnisvoll gedeutet. Doch ist sie vor allem von Trauer, Klage und einer Suche getragen: wie für das Grauen Worte finden? Wie der Vernichtung der Juden, dieser „Sternverdunkelung“, einen Ausdruck geben, der das sprachlose Entsetzen durchbricht?
Großer Andrang bei der Ankunft von Nelly Sachs in Frankfurt (Foto: Lutz Kleinhans)
Großer Andrang bei der Ankunft von Nelly Sachs in Frankfurt (Foto: Lutz Kleinhans)
Zweifel an der Versöhnung:
dem Leiden Gehör geben
In ihrer Dichtung versucht Nelly Sachs, das Leid der Opfer der Schoa zu fassen und in die Gegenwart einzuschreiben. Durch ihr eigenes Überleben wird sie mit der schlichten und grausamen Erkenntnis konfrontiert, selbst Ziel der mörderischen Politik der Verfolgung gewesen zu sein, aber überlebt zu haben. Daraus erwächst bei der Schriftstellerin jedoch kein Gefühl des Hasses, sondern der Trauer. Dies wird in Deutschland als Zeichen von Vergebung gedeutet. Die Auszeichnung von Sachs mit dem Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sollte „ohne Widerspruch Deutsches und Jüdisches versöhnen“, wie es in der Begründung der Preisjury hieß.
Sachs’ Gedichte und szenischen Texte kreisen um die Frage, was die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens ist. Sie betonen die Notwendigkeit von Erinnerung an die Opfer und ihren stummen Schrei. Die von ihnen erfahrene Gewalt dürfe nicht verdrängt werden. Und mehr noch: das Wort der Versöhnung darf nicht schon als Bewältigung gelten. Es steht erst am Ende eines langen Prozesses der Vergegenwärtigung. Sachs sieht die verfolgten Jüdinnen und Juden stets als Teil des deutschen Volks, warnt aber zugleich vor dem Missmut der nicht-jüdischen Deutschen, wenn sie an die Schrecken ihrer Taten erinnert werden. Die Schoa begreift Sachs in ihren Gedichten somit als deutsches Verbrechen und jüdisches Schicksal zugleich. Sie bilden das Zeugnis einer Traumatisierung, die Sachs lange auch gesundheitlich schwer zu schaffen machte.
Begrüßung von Nelly Sachs durch den Vorsitzenden des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Foto: Lutz Kleinhans)
Begrüßung von Nelly Sachs durch den Vorsitzenden des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Foto: Lutz Kleinhans)
Unmögliche Gegenwart:
Dichtung nach Auschwitz
Die Dichtung von Nelly Sachs stellt eine der frühesten und wichtigsten literarischen Auseinandersetzungen mit der Schoa dar. Verfolgung und Vernichtung, Opfer und Überlebende sind allesamt Themen ihrer Gedichte. Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an die Dichterin kann die verzögerte Aufarbeitung der Vergangenheit in der deutschen Nachkriegsgesellschaft jedoch nur wenig beeinflussen. Manchen Kritikern zufolge erschwert die symbolische Wirkung dieses Preises sogar eher die Würdigung von Sachs’ sprachlicher Ausdruckskraft und ihrer dichterischen Deutung von Auschwitz.
Was heißt es, „nach Auschwitz“ ein Gedicht zu schreiben? Mit dieser Frage waren neben Sachs im gleichen Zeitraum auch Paul Celan und Theodor W. Adorno in eindringlicher Weise befasst. Ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben, so Celan, dürfe nicht im Sinne einer wiederauferstandenen Kultur nach der Katastrophe verstanden werden. Es stelle vielmehr eine literarische Auseinandersetzung mit der Perspektive der Zeugenschaft und der Abwesenheit derer dar, die in den Todeslagern gestorben sind. Im Sommer 1965 wiederholt auch der in Frankfurt lehrende Philosoph Theodor W. Adorno in einer Vorlesung seine Aussage, dass es unmöglich, ja barbarisch sei, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben. Er versteht dies jedoch nicht als ein Verbot, sondern eher als Reflexion über die Unmöglichkeit, die „Welt nach Auschwitz, das heißt: die Welt, in der Auschwitz möglich war“, literarisch auszudrücken.
Nelly Sachs während der Preisverleihung in der Paulskirche (Foto: Klaus Meier-Ude, ISG)
Nelly Sachs während der Preisverleihung in der Paulskirche (Foto: Klaus Meier-Ude, ISG)
Gesamte Rede: Dankesrede (17. Oktober 1965)
00:00
Weitere Reden zum Themenfeld Nach Auschwitz
2007: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Saul Friedländer: „Dankesrede“ (14. Oktober 2007)
1953: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Martin Buber: „Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens“
(27. September 1953)
1963 / 1964: Ausstellung „Warschauer Ghetto“ und
„Auschwitz – Bilder und Dokumente“
Eugen Kogon: „Auschwitz und eine menschliche Zukunft“
(18. November 1964)