Auszug: Rede an die Deutschen (18. Mai 1948)
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Fritz von Unruh (1885 – 1970)
Schriftsteller, Dramatiker, politischer Redner
Rückkehr aus dem Exil:
eine deutsche Rede an die Deutschen
Für die Hundertjahrfeier der Nationalversammlung von 1848 wurde der Schriftsteller Fritz von Unruh als Festredner eingeladen. Als Exilant und liberaler, pazifistischer Schriftsteller hatte er für diese Aufgabe das nötige moralische Gewicht. Seine Bücher, in denen er seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg verarbeitete, waren von den Nationalsozialisten verbrannt worden. Zudem war er der Großneffe von Heinrich von Gagern, dem ersten Präsidenten der Nationalversammlung von 1848. Für die Jubiläumsfeier galt er – nach der Absage Thomas Manns – als ideale Wahl. In seiner Rede berichtete er vom Exil in den USA, wo ihm die deutsche Sprache als geistige Heimat blieb, und schwört die Deutschen auf einen Neuanfang ein.
Mit persönlicher Perspektive und großem Pathos ruft von Unruh sein Publikum dazu auf, sich die Verbrechen der Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Bildhaft beschreibt er sie als historischen Schicksalsschlag und tragischen Bruch mit der demokratischen Tradition seit 1848 und der Weimarer Republik. Die Zukunft Deutschlands hängt für ihn vom Rückgewinn der humanistischen Werte und der eigenen kulturellen Tradition ab. Mit seiner Rede erfüllte von Unruh die Erwartungen, die politisch mit der Hundertjahrfeier verbunden waren: Die Rückbesinnung auf gemeinsame kulturelle und humanistische Leistungen. Und die Verbrechen der Vergangenheit? Ihre sachliche Aufklärung sollte den Geist des Wiederaufbaus nicht allzu sehr stören.
Festzug vom Römer in die Paulskirche mit Walter Kolb und Fritz von Unruh an der Spitze (Foto: Kurt Röhrig, ISG)
Festzug vom Römer in die Paulskirche mit Walter Kolb und Fritz von Unruh an der Spitze (Foto: Kurt Röhrig, ISG)
Demokratisch oder national – Ost oder West:
das politische Engagement der Literatur
Die Rede Fritz von Unruhs in der Paulskirche war zugleich der Auftakt für den Zweiten Deutschen Schriftstellerkongress in Frankfurt. Nach dem ersten Kongress 1947 in Berlin sollte nun über die politische Rolle der Literatur, die Erfahrung des Exils sowie die künstlerische und wirtschaftliche Autonomie der Schriftstellerinnen und Schriftsteller diskutiert werden. Aus Anlass der Hundertjahrfeier wurde zudem die Bedeutung der Literatur für das Revolutionsgeschehen von 1848 erörtert. Damals war das Schreiben erstmals von der Zensur befreit und gewann so einen großen Anteil an öffentlichen Diskussionen. Wie schon vor hundert Jahren zeichnete sich 1948 ein Konflikt zwischen zwei Lagern ab: dem für die demokratischen Freiheitsrechte und dem für die nationale Kultur.
Welche politische Rolle und Stimme, welches Gewicht hat die Literatur? Auch diese Frage stellten sich die Kongressteilnehmenden in ihrem literarischen Bemühen um Humanität und Gerechtigkeit. Zudem drängte sich die Teilung Deutschlands in Ost und West als Thema auf, da kein Schriftsteller aus der sowjetischen Besatzungszone angereist war. Manch Anwesender musste sich zu seinem sozialistischen Engagement äußern. Von Unruh hatte sich als Anti-Marxist wie viele andere bereits klar gegen den Osten und seine propagierten Werte positioniert. Das politische Engagement zeigte sich bei ihm eher in einem abstrakten Bekenntnis zum Humanismus. Seine und andere Reden warfen die Fragen auf: was ist das politische Anliegen der Literatur? Darf oder muss Kultur politisch sein?
Fritz von Unruh spricht in der Frankfurter Paulskirche (Foto: Kurt Röhrig, ISG)
Fritz von Unruh spricht in der Frankfurter Paulskirche (Foto: Kurt Röhrig, ISG)
Aufruf an das „gute Deutschland“:
die Verantwortung jedes Einzelnen
Mit seiner Rede in der Paulskirche formuliert der Schriftsteller Fritz von Unruh einen Appell an die Verantwortung jedes Einzelnen. Das „Ich“ ist für ihn die entscheidende moralische und politische Instanz, von der aus er die Frage nach der Schuld und der Zukunft stellt. Dazu zieht er auch seine eigene Biografie heran und betrachtet diese im Verhältnis zur deutschen Geschichte. Von Unruh spricht so eindringlich, dass er während seiner Rede zusammenbricht und erst nach Unterbrechung wieder fortfahren kann.
In seiner Rede kritisiert von Unruh auch das Mitläufertum, den untertänigen Geist. Diesen sieht er insbesondere bei den „Beamten, Professoren und Generälen“, die „gestern pro Hitler und vorgestern Pro-Weimar und vorvorgestern pro-Kaiser“ waren. Gegen diesen Geist müsse sich die gesellschaftliche Erneuerung wehren. Die Auseinandersetzung mit der unzureichenden Entnazifizierung konnte der Schriftsteller mit dieser Kritik jedoch nicht stärken. In seiner Begrüßung hatte Oberbürgermeister Walter Kolb das literarische Werk von Unruhs noch als Trost und Hoffnung spendende Quelle in dunklen Zeiten gewürdigt.
Im gleichen Jahr hält von Unruh anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises noch eine zweite Rede in der Paulskirche. Hierin widmet er sich der Suche nach dem „wahren Deutschtum“ – in Abgrenzung zu einem „falschen“. Von Unruh zufolge ist die Entscheidung zum Guten oder Bösen jedem immer gegeben – doch reicht diese Formel als moralischer Kompass?
Fritz von Unruh bei seiner Rede in der Paulskirche während der Hundertjahrfeier (Foto: Kurt Röhrig, ISG)
Fritz von Unruh bei seiner Rede in der Paulskirche während der Hundertjahrfeier (Foto: Kurt Röhrig, ISG)
Gesamte Rede: Rede an die Deutschen (18. Mai 1948)
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Weitere Reden zum Themenfeld Exil, Ruine und Wiederaufbau
1949: Goethe-Feier der Stadt Frankfurt am Main
Thomas Mann: Ansprache im Goethejahr (25. Juli 1949)
1947 / 1948: Wiederaufbau und Einweihung der Paulskirche
Walter Kolb: Kundgebung in der Paulskirche (18. Mai 1948)